Landwirtschaftlicher Hauptverein für Ostfriesland e.V.

06.06.2019

170 Jahre LHV

Den Landwirtschaftliche Hauptverein gibt es bereits seit 170 Jahren und damit sind wir sicher einer der ältesten Bauernverbände in Deutschland. Unser Geschäftsführer aus Leer, Rudi Bleeker, hat sich einige Gedanken darüber gemacht:

 

170 Jahre LHV
Vereinsgeschichte als Identitätsressource


Jubiläen sind immer Anlass, zurück auf die Anfänge zu blicken und zu bilanzieren, was von den Gründern erwartet wurde, was sich erfüllt und was sich möglicherweise in eine ganz andere Richtung entwickelt hat. Die Gründungsversammlung des landwirtschaftlichen Hauptvereins für Ostfriesland fand am 06.06.1849 im Saal der ostfriesischen Landschaft in Aurich statt. Die ist bemerkenswerterweise keine von oben verordnete staatliche Institution, sondern die parlamentarische Vertretung von Ostfriesland. Oder vielmehr das, was davon übriggeblieben war, denn nach langem vergeblichem Ringen um Verfassungsfragen mit dem Königreich Hannover und der gescheiterten Revolution von 1848 hatten demokratische Bestrebungen soeben einen herben Rückschlag kassiert. Die Mitglieder der ersten Stunde – überwiegend Landwirte, Beamte und Kaufleute aus dem liberalen Mittelstand – kümmerten sich zunächst weniger um Agrarpolitik als vielmehr um die Förderung und Verbesserung der ostfriesischen Landwirtschaft, insbesondere in der Melioration und in der Viehzucht. Das ist bis heute eine Erfolgsgeschichte. Die Produktivität der landwirtschaftlichen Betriebe hat sich in Ausmaß entwickelt, das damals unvorstellbar war.

Aus aktueller gesellschaftlicher Sicht wird das offensichtlich ganz anders beurteilt. Nachdem Organisationen und Parteien, die sich den Umwelt- und Naturschutz auf die Fahnen geschrieben haben, mit der Atomindustrie ihr langjährig bewährtes Feindbild zur Strecke gebracht haben, geriet die Agrarbranche ins Visier. Die industrielle Revolution hat vor 170 Jahren Not und Elend über weite Teile der Bevölkerung gebracht, aber langfristig die Voraussetzungen für die heutigen Wohlstands- und Überflussgesellschaften geschaffen, die teilweise Übersättigungserscheinungen aufkommen lassen. Vor dem Hintergrund scheinen heute wieder kleine Existenzen, Selbstversorger, Subsistenzwirtschaften, die ihre schmalen Überschüsse auf regionalen Märkten verkaufen, das Idealbild einer bäuerlichen Landwirtschaft zu verkörpern, die selbstgenügsam, bescheiden und ländlich-sittlich ihr karges Dasein fristet. Bis vor nicht allzu langer Zeit der Normalzustand der ländlichen Bevölkerung, vor allem auf den mageren Sand- und Moorböden unterhalb der wohlhabenden Marschen an der Küste. Seinerzeit hatten die mächtigen und reichen Großgrundbesitzer, Polderfürsten, begüterte Adelige und Landjunker die Agrarpolitik bestimmt. Bis Gerrit Braks in den siebziger Jahren Agrarminister in den Niederlanden wurde. Braks kam aus Brabant, einem armen Landstrich an der südlichen Peripherie, wo auf wenig ertragreichen Böden neben Roggen- und Kartoffelanbau eine kümmerliche Viehhaltung betrieben wurde. Zum ersten Mal hatten nicht die großen Marschbauern aus den nördlichen Provinzen das Sagen, sondern die Kleinbauern aus dem Süden, und die nutzten ihre Chance. Mit Futtermittelimporten aus Übersee über die großen Häfen an Schelde und Rhein entstand binnen weniger Jahre eine flächenunabhängige Schweine- und Geflügelhaltung, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Diese Entwicklung beschränkte sich nicht auf die Niederlande, sondern erstreckte sich zunehmend auf den ganzen „Schweinegürtel“ von Frankreich über Belgien bis nach Südwestniedersachen und das Münsterland. Der Stallbau, die Futtermittelwirtschaft, Zulieferer, Ernährungsindustrie boomten und die ursprünglich armen, rückständigen und katholisch-konservativ geprägten Regionen erlebten ein Wirtschaftswunder sondergleichen. Nach jahrhunderterlanger Entbehrung stand zunächst die kurzfristige Gewinnmaximierung im Vordergrund. Die Folge, nämlich die Überdüngung der inkontinenten Sandböden durch vielfach überhöhten Viehbesatz, wurde gerne in Kauf genommen. Verschärft wurden diese Probleme nach der Jahrtausendwende noch durch den Bau zahlreicher Biogasanlagen, in der Geflügeltrockenmist verflüssigt und danach mangels Transportwürdigkeit zusätzlich in der Umgebung ausgebracht wurde. 

Die Ziele von damals, nämlich die Förderung und Verbesserung der ostfriesischen Landwirtschaft, stehen auch heute noch in der Satzung des LHV. Angesichts der oben geschilderten gesellschaftlichen Entwicklung lohnt sich eine kritische Überprüfung. Förderung und Verbesserung kann sich vor diesem Hintergrund nicht mehr auf Effizienz- und Ertragssteigerungen beschränken, sondern muss Ansprüche hinsichtlich Ressourcenschutz, Biodiversität, Tierwohl und Landschaftsbild zwingend berücksichtigen. Weitermachen wie bisher ist jedenfalls keine Option und wird auch nicht durch flankierende kosmetische Maßnahmen wie Hoftage, Blühstreifen, Einsatz von Werbeagenturen und wachsende Budgets für Öffentlichkeitsarbeit gerechtfertigt. Ohne sich durch laut- und meinungsstarke Minderheiten beirren zu lassen, sollten solche Ziele von Zeit zu Zeit nicht aufgegeben, aber gegebenenfalls neu definiert werden. Verbesserung und Förderung der gesellschaftlichen Akzeptanz ist zunächst eine Grundvoraussetzung, um wirtschaftliche Ziele auch durchsetzen zu können.

Die Satzung hat allerdings eine entscheidende Zielsetzung. Sie beschränkt sich ausdrücklich auf die ostfriesische Landwirtschaft. Es ist möglicherweise sinnvoll, regionale Alleinstellungsmerkmale wieder in den Blick zu rücken und sich von anderen Entwicklungsmodellen bewusst abzugrenzen, ohne ihnen ein gleichgewichtiges Existenzrecht abzusprechen. Die Veredlungsregionen in Nordwesteuropa haben eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung hinter sich und bilden mit dem Agrarbusiness die Grundlage für eine gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung, die der ganzen Gesellschaft zugutekommt. Für die Umweltfolgen sollte man aber nicht benachbarte Regionen mit in Haftung nehmen, die eine Tierhaltung mit passender Flächenausstattung betreiben, vorwiegend Grünland bewirtschaften, geschlossene Nährstoffkreisläufe einhalten und durch traditionelle Bewirtschaftungsweisen weiträumig Refugien für bedrohte Tier- und Pflanzenarten erhalten. Regionale Unterschiede sind in erster Linie kulturhistorisch bedingt, werden aber unter heutigen Bedingungen oft unterschätzt oder gar nicht mehr wahrgenommen. Als randständiger Landstrich weit weg von den Entscheidern in Hannover, Berlin oder Brüssel wird man mit politischen Entscheidungen konfrontiert, die im Gegensatz zu den lokalen Lebenswirklichkeiten stehen. Raumordnung, Umsetzung Nitratrichtlinie, Wasserrahmenrichtlinie oder Natura 2000: Hier werden einheitliche staatliche Vorgaben umgesetzt, was vom moralischen Gerechtigkeitsempfinden zunächst angemessen erscheinen mag, aber den unterschiedlichen Lebenspraktiken vor Ort nicht gerecht wird.

Es wäre aus dieser Sicht logisch und konsequent, wieder mehr Kompetenz und Entscheidungsbefugnisse auf die regionale und lokale Ebene zu verlagern. Hierfür kann gerade Ostfriesland eine besondere historische Legitimität für sich in Anspruch nehmen, denn das Konzept der mittelalterlichen friesischen Freiheit beruht auf dem Selbstbestimmungsrecht der freien Landesgemeinden. Ein Konzept, dass sich im Laufe der letzten Jahrhunderte letztlich nur in der Schweiz durchgesetzt hat, aber dort mit nachhaltigem Erfolg. Das Subsidiaritätsprinzip, nämlich die Verlagerung der Entscheidungskompetenzen auf möglichst lokale Ebenen, wurde erstmalig anlässlich der Emder Synode der reformierten Kirche im Oktober 1571 formuliert. Gut 30 Jahre später veröffentlichte der Rechtsgelehrte und damalige Emder Stadtsyndikus Johannes Althusius in seinem bahnbrechenden Werk „Politica Methodice Digesta“ diese Erkenntnisse für die breitere Öffentlichkeit, in der erstmalig die Legitimation der damals vorherrschenden autokratischen Alleinherrscher grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Es ist sicherlich kein Zufall, dass demokratische Systeme als erstes in reformiert geprägten Staaten wie die Niederlande, Schweiz, Britannien und den Vereinigten Staaten entstanden. Der Vertrag von Delfzijl und der Osterhusische Akkord sind lokale Vorbilder in Ostfriesland, wo die Landstände sich gegen das absolutistische Fürstenhaus der Cirksena behaupten konnten. 

Es gibt weitere historische Vorbilder, die reaktiviert werden können. Wer weiterhin eine flächengebundene Tierhaltung betreiben will, muss auf Landgewinnung setzten. Der zunehmende Flächenverbrauch durch Infrastruktur, Ausgleich und Naturschutz entzieht den Landnutzern ihre Existenzgrundlage und führt auf den verbleibenden Nutzflächen zwangläufig zu höheren Intensitäten.  „Deus Mare, Friso litora fecit“, Gott schuf das Meer, der Friese die Küste. Dieses Motto ist aus heutiger Sicht aktueller denn je, denn nichts spricht dagegen, die Landgewinnungsprojekte vergangener Jahrhunderte wiederaufzunehmen, die vor gut 50 Jahren lediglich unterbrochen wurden. Nichts außer der Nationalparkverwaltung Wattenmeer, die derzeit versucht, auch die Küstengemeinden unter ihre Gewalt zu bekommen, aber von den schon unter ihren Einfluss geratenen Inselgemeinden zunehmend als naturschutzbürokratisches Schreckensregime wahrgenommen wird. Vor dem Hintergrund des Klimawandels, steigender Meeresspiegel, zunehmender Sommertrockenheit und höherer Niederschlagsmengen im Winter sind Nutzflächen mit höherer natürlicher Ertragskraft und Wasser- wie Nährstoffspeicherkapazität gefragter denn je. Mit großzügiger Flächenausstattung kann man sich eine extensivere Wirtschaftsweise erlauben, der Natur wieder mehr Raum geben und einen flexiblen Küstenschutz mit Ästuarentwicklung etablieren. Gleichzeitig wäre es eine wertbeständige Anlage für vagabundierendes Kapital, überschüssige Liquidität, die sonst nur Blasen wirft. Unter dem Motto „Sieh zu, dass Du Land gewinnst“ oder „Auf zu neuen Ufern“ können erhebliche finanzielle Mittel eingeworben und die Grenzen immer weiter in die Nordsee vorangetrieben werden. Land im Überfluss, endloses Grasland, die Möglichkeit, immer weiter zu wandern, jungfräuliches Neuland unter den Pflug zu nehmen und zu besäen, grenzenlose Möglichkeiten – das alles gehörte schon immer zu den tief verankerten Sehnsüchten der meisten Menschen. Die Erschließung erfolgt über lineare Siedlungs- und Infrastrukturelemente, Humanotope inmitten der grenzenlosen Entwicklungsräume. 

Das ist natürlich in absehbarer Zeit nicht realisierbar, aber als Utopie, Fernziel und Leitbild geeignet und legitim. Auch die SPD führt schließlich scheinbar anachronistische Ziele wie den „demokratischen Sozialismus“ im Parteiprogramm, ohne ihn in der täglichen Regierungspraxis umzusetzen. Aber diese Leitbilder – Subsidiarität und Landgewinnung – können dazu beitragen, in den alltäglichen Auseinandersetzungen mit NGOs, Naturschutzbürokratie und staatlichen Übergriffen in die landwirtschaftlichen Existenzgrundlagen das nötige Selbstvertrauen und die nötige Selbstsicherheit zu schaffen, um nicht auf Dauer zu resignieren. Unsere Vorgänger hatten vor 170 Jahren trotz oder gerade wegen der gescheiterten Demokratiebewegungen das nötige Vertrauen in die Zukunft, den LHV zu gründen, die ostfriesische Landwirtschaft zu entwickeln und Verantwortung für die gesamte Region zu entwickeln. Diese Verantwortung sollten wir uns trotz schwieriger Bedingungen nicht nehmen lassen.
 

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